Was ist unterlassene Hilfeleistung nach § 323c StGB?
Sie beobachten einen Verkehrsunfall, eine Person liegt reglos am Boden. Andere Passanten schauen kurz hin und gehen weiter. Sie selbst zögern – sollen Sie helfen? Was, wenn Sie etwas falsch machen? Diese Gedanken gehen vielen durch den Kopf. Doch das deutsche Strafrecht kennt hier eine klare Antwort: Wer in bestimmten Situationen nicht hilft, macht sich strafbar. Die unterlassene Hilfeleistung nach § 323c des Strafgesetzbuches (StGB) stellt genau dieses Verhalten unter Strafe.
Der Gesetzgeber hat mit dieser Vorschrift ein fundamentales Prinzip unserer Gesellschaft verankert: die gegenseitige Solidarität in Notsituationen. Anders als in vielen anderen Ländern existiert in Deutschland eine echte Rechtspflicht zur Hilfe. Diese Pflicht trifft jeden Menschen, der eine Notsituation wahrnimmt – unabhängig davon, ob er das Opfer kennt, ob er Schuld an der Situation trägt oder welchen Beruf er ausübt.
Die gesetzliche Grundlage im Wortlaut
§ 323c Absatz 1 StGB regelt die eigentliche unterlassene Hilfeleistung. Danach wird bestraft, wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten ist. Besonders relevant ist dabei der zweite Absatz: Auch wer eine andere Person an der Hilfeleistung hindert oder behindert, macht sich strafbar. Dies betrifft etwa Situationen, in denen Schaulustige Rettungskräfte behindern oder jemand aktiv verhindert, dass ein Notruf abgesetzt wird.
Die Norm schützt das Interesse der Allgemeinheit an gegenseitiger Hilfe in Notsituationen. Sie ist ein sogenanntes Jedermannsdelikt – das bedeutet, dass sich grundsätzlich jede Person strafbar machen kann, die die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt. Eine besondere Garantenstellung wie bei anderen Unterlassungsdelikten ist nicht erforderlich.
Abgrenzung zu anderen Delikten
Die unterlassene Hilfeleistung ist von anderen Formen des strafbaren Unterlassens zu unterscheiden. Bei der unechten Unterlassungsstrafbarkeit nach § 13 StGB muss der Täter eine besondere Garantenstellung innehaben – etwa als Elternteil gegenüber dem Kind oder als Arbeitgeber gegenüber Arbeitnehmern. Hier kann das Unterlassen wie aktives Tun bestraft werden, beispielsweise als Totschlag durch Unterlassen.
Bei § 323c StGB hingegen genügt bereits die bloße Anwesenheit und Wahrnehmung der Notsituation. Die Strafe ist allerdings auch deutlich geringer als bei den Erfolgsdelikten. Wichtig ist auch die Abgrenzung zur Verkehrsunfallflucht nach § 142 StGB: Wer als Unfallbeteiligter den Unfallort verlässt, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen, begeht ein eigenständiges Delikt mit deutlich höherer Strafandrohung.
Wann besteht eine rechtliche Hilfspflicht?
Nicht jede Situation, in der jemand Hilfe benötigen könnte, löst automatisch eine Hilfspflicht aus. Das Gesetz beschränkt die Pflicht auf bestimmte, klar definierte Konstellationen. Diese Einschränkung ist wichtig, denn andernfalls wäre praktisch jeder Mensch permanent in der Pflicht zu helfen – was weder praktikabel noch vom Gesetzgeber gewollt ist.
Die drei Grundsituationen, die eine Hilfspflicht auslösen, sind: Unglücksfälle, gemeine Gefahr und gemeine Not. Diese Begriffe haben im juristischen Kontext eine spezifische Bedeutung, die über das alltagssprachliche Verständnis hinausgeht. Entscheidend ist stets, dass eine erhebliche Gefahr für bedeutende Rechtsgüter besteht – typischerweise Leben, Körper oder Gesundheit von Menschen.
Unglücksfälle als häufigster Anwendungsfall
Ein Unglücksfall ist jedes plötzlich eintretende Ereignis, das erhebliche Gefahren für Menschen oder bedeutende Sachwerte mit sich bringt. Der klassische Fall ist der Verkehrsunfall mit verletzten Personen. Aber auch Arbeitsunfälle, Haushaltsunfälle, Sportunfälle oder medizinische Notfälle wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle fallen unter diesen Begriff.
Entscheidend ist die Plötzlichkeit des Ereignisses. Eine chronische Erkrankung ist kein Unglücksfall – wohl aber ein akuter Krankheitsschub, der eine unmittelbare Gefahr darstellt. Auch der Suizidversuch wird von der Rechtsprechung als Unglücksfall eingestuft, sodass Zeugen zur Hilfe verpflichtet sind. Die Hilfspflicht besteht dabei unabhängig davon, wer den Unglücksfall verursacht hat – auch bei selbstverschuldeten Unfällen müssen Dritte helfen.
Gemeine Gefahr und gemeine Not
Gemeine Gefahr bezeichnet Situationen, in denen eine unbestimmte Vielzahl von Menschen oder bedeutende Sachwerte bedroht sind. Typische Beispiele sind Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Erdbeben oder Stürme, aber auch Brände in Wohnhäusern oder Industrieanlagen. Hier muss nicht zwingend bereits ein Schaden eingetreten sein – die drohende Gefahr genügt.
Die gemeine Not erfasst Situationen existenzieller Bedrohung, die ebenfalls eine Vielzahl von Menschen betreffen. Historische Beispiele sind Hungersnöte oder Epidemien. In der modernen Rechtspraxis spielt dieser Tatbestandsteil eine untergeordnete Rolle, kann aber etwa bei großflächigen Stromausfällen im Winter oder ähnlichen Konstellationen relevant werden.
Praxis-Tipp: Notsituationen richtig einschätzen
Im Zweifel sollten Sie davon ausgehen, dass eine Hilfspflicht besteht. Wenn Sie eine Person in einer möglicherweise bedrohlichen Situation sehen, handeln Sie lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Setzen Sie zumindest einen Notruf ab – das ist immer zumutbar und kann im Zweifel Leben retten. Die Leitstelle hilft Ihnen dann bei der Einschätzung der Situation.
Welche Art der Hilfeleistung ist ausreichend?
Eine der wichtigsten Fragen in der Praxis lautet: Was muss ich konkret tun, um meiner Hilfspflicht nachzukommen? Die Antwort des Gesetzes ist bewusst flexibel gehalten: Die Hilfeleistung muss erforderlich sein. Das bedeutet, dass die konkret erwartete Handlung geeignet sein muss, die Gefahr abzuwenden oder zumindest zu vermindern. Gleichzeitig muss sie zumutbar sein – dazu später mehr.
Die gute Nachricht vorweg: Das Gesetz verlangt keine Heldentaten. Niemand muss sich selbst in Gefahr bringen oder über seine Fähigkeiten hinaus handeln. Die Hilfeleistung richtet sich nach den individuellen Möglichkeiten des Einzelnen und den konkreten Umständen der Situation. Was von einem ausgebildeten Rettungssanitäter erwartet werden kann, unterscheidet sich erheblich von dem, was ein medizinischer Laie leisten muss.
Der Notruf als Mindestform der Hilfe
Das Absetzen eines Notrufs ist in nahezu jeder Situation eine ausreichende Form der Hilfeleistung – jedenfalls dann, wenn weitergehende Maßnahmen nicht zumutbar sind oder keinen zusätzlichen Nutzen bringen würden. Wer die 112 wählt, die Situation schildert und am Telefon bleibt, bis die Leitstelle keine weiteren Fragen mehr hat, erfüllt damit grundsätzlich seine Hilfspflicht.
Dies gilt besonders dann, wenn der Helfer keine medizinischen Kenntnisse hat, die Situation gefährlich erscheint oder bereits professionelle Hilfe unterwegs ist. Der Notruf ist dabei nicht nur die einfachste, sondern oft auch die effektivste Form der Hilfe: Die Rettungskräfte sind ausgebildet, ausgerüstet und können schneller und besser helfen als die meisten Laien.
Weitergehende Hilfsmaßnahmen
Je nach Situation und eigenen Fähigkeiten können weitergehende Maßnahmen erforderlich sein. Dies umfasst klassische Erste-Hilfe-Maßnahmen wie die stabile Seitenlage, das Stillen von Blutungen oder die Herz-Lungen-Wiederbelebung. Auch das Absichern einer Unfallstelle, das Bergen von Verletzten aus einem Gefahrenbereich oder das Beruhigen und Betreuen von Unfallopfern sind typische Hilfsmaßnahmen.
Wichtig ist: Wer über besondere Kenntnisse verfügt – etwa als Arzt, Krankenpfleger oder Rettungssanitäter – von dem wird mehr erwartet als von einem Laien. Aber auch hier gilt: Die Hilfspflicht endet dort, wo die eigene Sicherheit erheblich gefährdet wäre oder andere wichtige Pflichten entgegenstehen.
Beispiel: Verkehrsunfall auf der Autobahn
Herr M. fährt auf der Autobahn und beobachtet einen Auffahrunfall auf dem Standstreifen. Ein Fahrzeug raucht stark. Herr M. hält an einer sicheren Stelle an, setzt den Notruf ab und schildert die Situation. Da er keinen Feuerlöscher hat und sich dem rauchenden Fahrzeug nicht gefahrlos nähern kann, wartet er auf die Rettungskräfte und weist diese ein. Dies ist eine ausreichende Hilfeleistung – Herr M. hat alles getan, was ihm zumutbar war.
Grenzen der Hilfspflicht: Was ist zumutbar?
Die Zumutbarkeit ist das zentrale Korrektiv der Hilfspflicht. Das Gesetz verlangt keine Selbstaufopferung und keine Heldentaten. Die Grenze der Hilfspflicht liegt dort, wo die Hilfeleistung dem Einzelnen nach den konkreten Umständen nicht mehr zugemutet werden kann. Diese Grenze ist individuell zu bestimmen und hängt von zahlreichen Faktoren ab.
Die Rechtsprechung hat im Laufe der Jahre verschiedene Fallgruppen entwickelt, in denen die Zumutbarkeit regelmäßig verneint wird. Gleichzeitig gibt es Situationen, in denen auch erhebliche Unannehmlichkeiten hingenommen werden müssen. Die Abwägung erfolgt stets im Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände.
Eigene Gefährdung als Grenze
Die wichtigste Grenze der Hilfspflicht ist die erhebliche Eigengefährdung. Niemand muss sein eigenes Leben oder seine Gesundheit aufs Spiel setzen, um anderen zu helfen. Wer bei einem Hausbrand nicht in das brennende Gebäude laufen will, handelt nicht pflichtwidrig. Ebenso wenig muss jemand in einen reißenden Fluss springen, um einen Ertrinkenden zu retten, wenn er selbst nicht schwimmen kann.
Allerdings ist nicht jede theoretische Gefahr ein Grund, die Hilfe zu verweigern. Die Gefahr muss erheblich sein und darf nicht nur auf einer subjektiven Überbewertung des Risikos beruhen. Wer aus Angst vor einer Ansteckung einem Verletzten nicht hilft, obwohl keine konkrete Infektionsgefahr besteht, kann sich nicht auf fehlende Zumutbarkeit berufen.
Andere wichtige Pflichten
Die Hilfspflicht kann auch durch andere wichtige Pflichten eingeschränkt sein. Wer selbst ein kleines Kind beaufsichtigt, muss dieses nicht allein lassen, um einem Fremden zu helfen. Ebenso können berufliche Pflichten in Ausnahmefällen vorgehen – etwa wenn ein Chirurg mitten in einer Operation steht.
Allerdings werden diese Ausnahmen eng ausgelegt. Normale berufliche Termine oder private Verabredungen rechtfertigen nicht das Unterlassen einer Hilfeleistung. Auch finanzielle Nachteile – etwa das Versäumen eines wichtigen Geschäftstermins – müssen grundsätzlich hingenommen werden.
Checkliste: Wann ist Hilfe nicht zumutbar?
- Erhebliche Gefahr für das eigene Leben oder die eigene Gesundheit besteht
- Wichtige Schutzpflichten gegenüber anderen Personen entgegenstehen
- Die Hilfeleistung aus physischen Gründen unmöglich ist
- Professionelle Hilfe bereits vor Ort ist und weiterer Beistand unnötig wäre
- Die Gefahr für den Hilfebedürftigen bereits beseitigt ist
Welche Strafen drohen bei unterlassener Hilfeleistung?
Die Strafandrohung für unterlassene Hilfeleistung ist im Vergleich zu anderen Delikten moderat – was angesichts der Tatsache, dass kein aktives Handeln, sondern nur ein Unterlassen bestraft wird, auch sachgerecht erscheint. Der Strafrahmen reicht von einer Geldstrafe bis zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr. In der Praxis werden die meisten Fälle mit einer Geldstrafe geahndet.
Die konkrete Strafhöhe hängt von verschiedenen Faktoren ab: der Schwere der Notlage, den Folgen des Unterlassens, der Motivation des Täters und seinen persönlichen Verhältnissen. Ein Erstverstoß ohne schwerwiegende Folgen wird anders bewertet als wiederholtes Wegschauen oder eine Situation, in der durch die unterlassene Hilfe jemand zu Schaden gekommen ist.
Geldstrafe in der Praxis
Die Geldstrafe wird in Tagessätzen bemessen. Die Anzahl der Tagessätze richtet sich nach der Schwere der Tat, die Höhe des einzelnen Tagessatzes nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters. Bei unterlassener Hilfeleistung werden häufig zwischen 20 und 90 Tagessätze verhängt. Bei einem Nettoeinkommen von beispielsweise 2.000 Euro und 30 Tagessätzen ergibt sich eine Geldstrafe von etwa 2.000 Euro.
Eine Vorstrafe wird erst ab einer Verurteilung von mehr als 90 Tagessätzen in das Führungszeugnis eingetragen. Viele Verurteilungen wegen unterlassener Hilfeleistung bleiben daher ohne Eintrag im Führungszeugnis, was die langfristigen Konsequenzen begrenzt. Dennoch handelt es sich um eine strafrechtliche Verurteilung mit allen damit verbundenen Nachteilen.
Freiheitsstrafe: Wann droht sie?
Eine Freiheitsstrafe wird nur in schwerwiegenden Fällen verhängt und selbst dann meist zur Bewährung ausgesetzt. Voraussetzung ist in der Regel, dass besonders verwerfliche Umstände vorliegen – etwa wenn jemand bei einem von ihm selbst verursachten Unfall nicht hilft, wenn das Opfer ein hilfloses Kind ist oder wenn der Täter die Notlage des Opfers ausnutzt.
Auch wiederholte Verstöße oder eine Kombination mit anderen Straftaten können zu einer Freiheitsstrafe führen. In der Praxis sind Freiheitsstrafen ohne Bewährung bei reiner unterlassener Hilfeleistung jedoch sehr selten. Sie kommen vor allem dann in Betracht, wenn zusätzlich andere Straftaten wie Körperverletzung oder Nötigung im Raum stehen.
Schadensersatz und zivilrechtliche Konsequenzen
Neben der strafrechtlichen Verfolgung drohen bei unterlassener Hilfeleistung auch zivilrechtliche Konsequenzen. Wenn durch das Unterlassen ein Schaden entsteht oder sich verschlimmert, kann der Betroffene unter Umständen Schadensersatz verlangen. Diese zivilrechtliche Haftung besteht unabhängig von der strafrechtlichen Verurteilung und kann erhebliche finanzielle Folgen haben.
Die Grundlage für zivilrechtliche Ansprüche bildet § 823 Absatz 2 BGB in Verbindung mit § 323c StGB. Danach ist derjenige zum Schadensersatz verpflichtet, der gegen ein Schutzgesetz verstößt. § 323c StGB ist ein solches Schutzgesetz, da es dem Schutz von Personen in Notsituationen dient. Allerdings müssen für einen Schadensersatzanspruch weitere Voraussetzungen erfüllt sein.
Voraussetzungen für Schadensersatzansprüche
Für einen zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch muss zunächst ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Unterlassen und dem eingetretenen Schaden bestehen. Das bedeutet: Der Schaden muss gerade deshalb eingetreten sein, weil nicht geholfen wurde. Wäre der Schaden auch bei Hilfeleistung eingetreten, besteht kein Anspruch.
Darüber hinaus muss der Schädiger schuldhaft gehandelt haben – also vorsätzlich oder fahrlässig. Bei unterlassener Hilfeleistung liegt regelmäßig zumindest Fahrlässigkeit vor, wenn der Täter die Notsituation erkannt hat oder hätte erkennen müssen. Der zu ersetzende Schaden umfasst Heilungskosten, Verdienstausfall, Schmerzensgeld und weitere Folgeschäden.
Haftungsprivileg für Helfer
Ein wichtiger Aspekt, der viele Menschen vom Helfen abhält, ist die Angst vor Haftung bei fehlerhafter Hilfe. Diese Sorge ist jedoch weitgehend unbegründet. Das deutsche Recht privilegiert Helfer in Notsituationen erheblich. Wer in einer Notsituation nach bestem Wissen und Gewissen hilft, haftet grundsätzlich nicht für Fehler, die ihm dabei unterlaufen.
Die Haftungsbeschränkung gilt für alle Maßnahmen, die der Helfer in der konkreten Situation für erforderlich halten durfte. Nur bei grober Fahrlässigkeit – also bei Verstößen gegen grundlegende Sorgfaltspflichten – kann eine Haftung in Betracht kommen. Zudem greift in vielen Fällen der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, wenn der Helfer selbst zu Schaden kommt.
Praxis-Tipp: Keine Angst vor Fehlern bei der Ersten Hilfe
Wenn Sie helfen und dabei etwas falsch machen, droht Ihnen keine Strafe und in aller Regel auch kein Schadensersatz. Das Gesetz schützt Helfer, die nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Der einzige Fehler, den Sie wirklich machen können, ist gar nicht zu helfen. Selbst eine nicht perfekt ausgeführte Herz-Lungen-Wiederbelebung ist besser als keine Wiederbelebung.
Verteidigung gegen den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung
Wer mit dem Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung konfrontiert wird, hat verschiedene Verteidigungsmöglichkeiten. Die Erfolgsaussichten hängen stark vom konkreten Einzelfall ab. In vielen Fällen lässt sich bereits das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen in Frage stellen – etwa weil keine echte Notsituation vorlag oder weil die Hilfeleistung nicht zumutbar war.
Eine frühzeitige und durchdachte Verteidigungsstrategie kann oft dazu führen, dass das Verfahren eingestellt wird oder es gar nicht erst zu einer Hauptverhandlung kommt. Dabei ist es wichtig, die eigene Sicht der Dinge sachlich und nachvollziehbar darzustellen und eventuelle entlastende Umstände zu benennen.
Fehlende Tatbestandsmerkmale
Die erste Verteidigungslinie besteht darin, das Vorliegen der objektiven Tatbestandsmerkmale zu bestreiten. War die Situation wirklich ein Unglücksfall im rechtlichen Sinne? Bestand tatsächlich eine Gefahr für Leib oder Leben? War die verlangte Hilfe überhaupt erforderlich, um die Gefahr abzuwenden? Wenn eine dieser Fragen verneint werden kann, liegt keine Strafbarkeit vor.
Häufig lässt sich auch argumentieren, dass die verlangte Hilfe nicht zumutbar war. Wer etwa selbst verletzt oder unter Schock stand, von dem konnte keine Hilfe erwartet werden. Ebenso wenig von jemandem, der sich selbst in Gefahr hätte bringen müssen oder der andere wichtige Pflichten wahrzunehmen hatte. Die Darlegung solcher Umstände erfordert eine genaue Rekonstruktion der Situation.
Subjektive Entlastungsgründe
Auch auf der subjektiven Seite gibt es Verteidigungsmöglichkeiten. Vorsatz setzt voraus, dass der Täter die Notsituation erkannt hat und trotzdem nicht geholfen hat. Wer eine Situation falsch eingeschätzt hat – etwa weil er dachte, es handele sich um einen Scherz oder die Person brauche keine Hilfe – hat nicht vorsätzlich gehandelt.
Allerdings kann auch Fahrlässigkeit ausreichen, wobei die fahrlässige Begehung nicht ausdrücklich unter Strafe gestellt ist. In der Praxis führen Irrtümer über die Hilfebedürftigkeit daher oft zur Straflosigkeit. Wichtig ist, den eigenen Kenntnisstand und die eigene Wahrnehmung der Situation genau zu dokumentieren und darzulegen.
Praxisbeispiele aus der Rechtsprechung
Die Rechtsprechung zur unterlassenen Hilfeleistung ist vielfältig und zeigt die praktische Anwendung der abstrakten Regelungen. Aus den entschiedenen Fällen lassen sich wichtige Erkenntnisse für das eigene Verhalten ableiten. Die folgenden Beispiele illustrieren typische Konstellationen und deren rechtliche Bewertung.
Dabei wird deutlich, dass die Gerichte stets eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalls vornehmen. Pauschale Aussagen darüber, wann eine Strafbarkeit vorliegt und wann nicht, sind daher nur eingeschränkt möglich. Dennoch haben sich gewisse Grundsätze herausgebildet, an denen sich Bürger orientieren können.
Klassischer Fall: Verkehrsunfall
Der Verkehrsunfall ist der häufigste Anwendungsfall der unterlassenen Hilfeleistung. Die Rechtsprechung verlangt von Unfallzeugen mindestens das Anhalten, das Sichern der Unfallstelle und das Absetzen eines Notrufs. Wer einfach weiterfährt, ohne sich um mögliche Verletzte zu kümmern, macht sich regelmäßig strafbar.
Die Gerichte haben allerdings auch klargestellt, dass nicht jeder, der an einem Unfall vorbeifährt, automatisch strafbar ist. Wenn bereits ausreichend Helfer vor Ort sind, die Polizei sichtbar anwesend ist oder die Verkehrssituation ein gefahrloses Anhalten nicht zulässt, kann das Weiterfahren gerechtfertigt sein. Entscheidend ist stets die konkrete Situation.
Beispiel: Gaffer am Unfallort
Nach einem schweren Verkehrsunfall auf einer Bundesstraße sammeln sich zahlreiche Schaulustige. Einer von ihnen, Herr K., filmt mit seinem Smartphone die Rettungsarbeiten und behindert dabei einen Rettungssanitäter. Das Gericht verurteilte Herrn K. nicht nur wegen unterlassener Hilfeleistung, sondern auch nach § 323c Absatz 2 StGB wegen Behinderung der Hilfeleistung. Das Filmen von Unfallopfern ist zudem nach § 201a StGB strafbar.
Notsituationen im häuslichen Bereich
Auch im privaten Umfeld kann unterlassene Hilfeleistung vorliegen. Wer beobachtet, wie sein Nachbar einen Herzinfarkt erleidet und nicht hilft, macht sich ebenso strafbar wie jemand, der einen Unfall auf der Straße ignoriert. Die private Sphäre schützt nicht vor der Hilfspflicht – im Gegenteil kann gerade im häuslichen Bereich, wo weniger Zeugen präsent sind, die individuelle Verantwortung größer sein.
Problematisch sind Fälle häuslicher Gewalt, bei denen Nachbarn die Hilfe unterlassen. Die Rechtsprechung verlangt hier zumindest das Verständigen der Polizei, wenn erkennbar ist, dass eine Person misshandelt wird. Ein persönliches Einschreiten ist hingegen oft nicht zumutbar, da der Helfer sich selbst in Gefahr bringen könnte.
Praxis-Tipp: Dokumentation bei Notfällen
Wenn Sie in eine Notsituation geraten und helfen, notieren Sie sich anschließend möglichst genau, was passiert ist: Uhrzeit, Ort, beteiligte Personen, eigene Handlungen. Falls später Fragen aufkommen sollten – sei es von der Polizei oder im zivilrechtlichen Kontext – haben Sie so eine verlässliche Grundlage für Ihre Aussagen. Diese Dokumentation kann entscheidend sein, um Missverständnisse zu vermeiden.
Besondere Konstellationen und Grenzfälle
Die Rechtsprechung musste sich auch mit zahlreichen Grenzfällen auseinandersetzen. So wurde etwa entschieden, dass die Hilfspflicht auch bei selbstverschuldeten Notsituationen besteht – wer eine stark alkoholisierte Person hilflos auf der Straße liegen sieht, muss helfen, auch wenn diese sich selbst in diesen Zustand versetzt hat.
Umstritten war lange die Frage, ob bei Suizidversuchen eine Hilfspflicht besteht. Die herrschende Meinung bejaht dies: Der Suizidversuch ist ein Unglücksfall, bei dem grundsätzlich Hilfspflicht besteht. Allerdings kann die Zumutbarkeit im Einzelfall eingeschränkt sein, etwa wenn der Betroffene die Hilfe ausdrücklich und bei klarem Verstand ablehnt. Die rechtliche Bewertung solcher Fälle ist komplex und hängt von vielen Faktoren ab.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die unterlassene Hilfeleistung ist ein Delikt, das jeden treffen kann. Die beste Strategie besteht darin, in Notsituationen zu helfen – und sei es nur durch einen Anruf bei der Notrufnummer 112. Wer hilft, handelt nicht nur rechtmäßig, sondern leistet auch einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt.
